Niels Abel
5.8.1802, Finnöy, Norwegen - 6.4.1829, Froland, Norwegen
Der folgende Text (gekürzt) stammt aus dem Buch "Biographien bedeutender Mathematiker" von H. Wussing und W.
Arnold (VEV Volk und Wissen 1983, 3. Auflage).
Niels Henrik Abel stammte aus einer Familie von Landpastoren. Als zweites Kind von sieben Kindern
wurde er am 5. August 1802 auf der Insel Finnöy an der Südwestküste Norwegens geboren.
Abel wurde anfangs vom Vater, einem schwierigen Charakter, unterrichtet.
Schliesslich gelang es, Niels Abel im Alter von 13 Jahren zusammen mit seinem älteren
Bruder an der schon seit dem Mittelalter bestehenden Domschule in Oslo unterzubringen. Sein Lehrer, Bernt Michael Holmboe,
gab ihm Poisson, Gauss, Newton, Lalande, d'Alembert, Lagrange und andere mathematische Autoren von
Rang zu lesen und schirmte den sehr sensiblen, körperlich schwächlichen und anfälligen Niels Henrik vor
den schlimmsten Übergriffen der Lehrer und Mitschüler ab.
Abel machte sich in unglaublich kurzer Zeit die mathematischen Ergebnisse seiner Zeit zu
eigen und fing bereits an, eigene Untersuchungen anzustellen. Er glaubte vorübergehend sogar, die seit
Jahrhunderten vergeblich gesuchte Auflösung der allgemeinen algebraischen Gleichung fünften Grades
in Radikalen gefunden zu haben; seine Lehrer und sogar die besten Mathematiker Norwegens vermochten
nicht, über die Richtigkeit seiner Ansätze zu entscheiden. Diese öffentlich diskutierte Affäre trug Abel ein
solches Ansehen und solche Empfehlungen ein, dass er 1821 an der Universität Oslo immatrikuliert
werden konnte. Seine persönlichen Verhältnisse waren indes fast verzweifelt: Er war völlig mittellos, sein
Elternhaus familiär zerrüttet und verschuldet, der Vater war am Scheitern seiner politischen und volksbildnerischen
Reformpläne innerlich zerbrochen und schon 1820 verstorben, der ältere Bruder durch Krankheit erwerbsunfähig.
Um "das seltene Talent Abels der Wissenschaft zu erhalten", so hiess es in einem Antrag Holmboes an die
Universitätsverwaltung, wurden Abel ausnahmsweise freie Unterkunft in der Universität sowie eine Art
Taschengeld gewährt.
Freunde unter den Studenten, entferntere Verwandte und Fürsprecher unter den Professoren
- im Hinblick auf die zu erwartenden wissenschaftlichen Leistungen - sicherten eine wenn auch kümmerliche Existenz;
freundschaftlichen Rat und Familienanschluss fand er bei dem Osloer Professor Chr. Hansteen. Hansteen war Herausgeber
einer ersten wissenschaftlichen Zeitschrift, des "Magazins for Naturvidenskaben".
Abel hat dort verschiedene kürzere Arbeiten publiziert, die typische Züge
eines Autodidakten und zugleich auch die des reifenden Genies tragen. Beispielsweise tritt hier die erste
explizite Problemstellung einer Integralgleichung auf.
Im Vordergrund seines Interesses standen schon damals die Theorie der elliptischen Funktionen und die
Auflösungstheorie algebraischer Gleichungen; auf diesen beiden Gebieten wird er in den wenigen Jahren,
die ihm noch vergönnt sein sollten, als einer der bedeutendsten Mathematiker in die Geschichte eingehen.
Ende 1823 schon gelangte Abel zu der Einsicht, dass die Auflösung der allgemeinen Gleichung des Grades
fünf in Radikalen unmöglich ist. Abel hatte seine erste bedeutende mathematische Entdeckung gemacht.
Er musste übersehen, aus Mangel an Verbindungen zur wissenschaftlichen Welt, dass ihm hier schon ein
anderer zuvorgekommen war, der Italiener P. Ruffini, der rund zweieinhalb Jahrzehnte vorher eben diese
Entdeckung publiziert und einen in wesentlichen Teilen vollständigen Beweis dieser überraschenden
Tatsache geliefert hatte. Erst später erfuhr Abel von Ruffini.
Die Universitätsbehörden in Oslo taten ihr Möglichstes, um Abel zu fördern. Auf Grund dringender
Vorstellungen, insbesondere durch Professor Hansteen, wurden Abel ein bescheidenes, aber ausreichendes Stipendium
gewährt sowie die finanziellen Mittel bereitgestellt, die es ihm ermöglichen sollten, auf einer Reise die
wichtigen mathematische Zentren zu besuchen und insbesondere in Paris persönlichen Kontakt
mit den führenden Mathematikern zu pflegen. Dort lebte
A. M. Legendre, der beste Kenner der elliptischen
Funktionen; dort wirkte
A. L. Cauchy, einer der schärfsten Denker auf dem Gebiet der Analysis.
Alles schien sich zum besten zu fügen.
Im Sommer 1825 reiste Abel ab;
die Reise führte Abel von Kopenhagen zunächst nach Altona bei Hamburg, zu dem mit Gauss befreundeten
berühmten Astronomen H. Chr. Schumacher. Den Winter verbrachte Abel in Berlin, herzlich aufgenommen
insbesondere von dem Oberbaurat A. L. Crelle. Crelle war ein bedeutender und einflussreicher
Ingenieur. Leidenschaftlich förderte er, selbst Autor
mathematischer Abhandlungen, die Entwicklung der Mathematik in Preussen und rief gerade um diese
Zeit die später in Deutschland führende mathematische Zeitschrift "Journal für die reine und angewandte
Mathematik" ins Leben. Crelle ermunterte Abel, seine Ergebnisse in druckfertigen Abhandlungen
niederzulegen. Abel arbeitete in knapp vier Monaten sechs Abhandlungen aus, die in Band 1 des Crelleschen
Journals aufgenommen wurden. Mindestens zwei davon gehören zu den Marksteinen in der
Geschichte der Mathematik. Die Abhandlung "Beweis der Unmöglichkeit der algebraischen Auflösbarkeit
der allgemeinen Gleichungen, welche den vierten Grad übersteigen", beantwortete ein jahrhundertelang
diskutiertes Problem, ging weit über Ruffini hinaus und gehört noch heute zu den klassischen Bestandteilen
der Mathematik. Die Abhandlung "Über die binomische Reihe" trug wesentlich zur Verschärfung
der Grundlagen der Analysis bei, indem sie die Konvergenztheorie unendlicher Reihen präzisierte.
Diesen Sachverhalt bezeichnet man heute als Abelschen Stetigkeitssatz.
Abels Reise führte weiter über Freiberg, Dresden, Wien, über einen längeren Abstecher nach Venedig
schliesslich im Juli 1826 nach Paris. Dort blieb er bis Jahresschluss. Indes, Abels hochgesteckte Erwartungen
sollten sich nicht erfüllen. Zu selbstbewusst war der Kreis der - unbestreitbar führenden- französischen
Mathematiker, als dass ein fast Unbekannter dort hätte ohne weiteres Fuss fassen können. Insbesondere
erwies sich die Annäherung an Cauchy als unmöglich, der, selbst in einem wahren Schaffensrausch
mathematischer Untersuchungen begriffen, Arbeiten anderer Mathematiker nicht die gebührende
Aufmerksamkeit entgegenbringen konnte und wollte. In einem Brief an Holmboe urteilt Abel: "Cauchy
ist närrisch und es gibt keinen Weg, mit ihm zurechtzukommen, obgleich er gegenwärtig der Mathematiker
ist, der am besten weiss, wie Mathematik gemacht werden sollte."
Am 30. Oktober 1826 überreichte Abel der Pariser Akademie seine grossangelegte "Untersuchung über
eine allgemeine Eigenschaft einer sehr verbreiteten Klasse transzendenter Funktionen", die das sogenannte
"Abelsche Theorem" enthält. Grob gesprochen, handelt es sich um eine ausserordentliche
Verallgemeinerung des Additionstheorems der elliptischen Integrale.
Dieses Manuskript betrachtete Abel als Schlüssel, der ihm den Eintritt in den exklusiven Kreis der
französischen Gelehrten eröffnen sollte. Er wusste, mit Recht, dass seine Ergebnisse bedeutend waren.
Cauchy war von der Akademie beauftragt, das Gutachten anzufertigen. Cauchy aber - leider ist Abels
Fall nicht der einzige geblieben - schreckte vor der Länge und Schwierigkeit des Manuskriptes zurück,
weil es ihm, zuviel Zeitverlust bei der Ausarbeitung seiner Ergebnisse gekostet hätte, und verlegte das
Manuskript. Erst weit nach Abels Tode konnte durch eine offizielle diplomatische Aktion der norwegischen
Regierung das Abelsche Manuskript wiedergefunden und zum Druck befördert werden.
Während Abel zunächst geduldig und dann resignierend auf Antwort von der Akademie wartete - er sollte
sie nie erhalten -, stiess er zu neuen tiefen Einsichten vor. Der jahrhundertelang diskutierten Frage nach
der Auflösbarkeit in Radikalen bei den Gleichungen höheren als vierten Grades gewann er die neue
Fragestellung ab, alle diejenigen Gleichungen aufzustellen, die in Radikalen, also in Wurzelzeichen,
auflösbar sind. Nach der Rückkehr nach Norwegen wird Abel bis zur Einsicht in die fundamentale Rolle
der nach ihm benannten Abelschen Gruppen vorstossen.
In Paris erhielt Abel zugleich wesentliche Anregungen für neue Wege zur Behandlung des zweiten ihn
besonders interessierenden Gebietes, der Theorie der elliptischen Integrale. Legendre hatte in seinem
dreibändigen Werk über die Integralrechnung auch die elliptischen Integrale behandelt und bereitete in
den Jahren von Abels Pariser Aufenthalt eine Neuauflage vor. Abel aber fasste diese Probleme von einem
prinzipiell neuen Gesichtspunkt an und eröffnete damit ein ausserordentlich ergiebiges neues Feld
mathematischer Forschung. Die ersten, aber schon weitgreifenden Resultate der "Untersuchungen über
elliptische Funktionen" erschienen 1827 und 1828 in Crelles Journal.
Mit reichem wissenschaftlichen Gewinn, aber ohne die erhoffte - und wie sich bald zeigen sollte,
dringend benötigte - offizielle Anerkennung verliess Abel in niedergedrückter Stimmung Ende 1826 Paris.
Über Berlin, wo sich Crelle wieder herzlich seiner annahm, ohne ihm jedoch eine halbwegs vernünftige
feste Anstellung bieten zu können, kehrte Abel 1827 nach Norwegen zurück. Einen Besuch bei
Gauss in
Göttingen hat Abel offensichtlich gescheut, wohl, weil er durch Legendre übertriebene Vorstellungen von
dessen Unnahbarkeit hatte.
Zu Hause, in Oslo, gestalteten sich Abels Verhältnisse keineswegs so, wie er bei seiner Abreise hatte
erwarten dürfen. Sein Freund und Förderer, Professor Hansteen, befand sich auf einer langdauernden
wissenschaftlichen Expedition in Sibirien. Die erhoffte Anstellung an der Osloer Universität war nicht
möglich; er fand nur eine Lehramtsstellung an einer neugegründeten Militärakademie und vorübergehend
eine Aushilfsstellung an der Universität. Das Schlimmste aber stellte sich nach der Rückkehr in das rauhe
norwegische Klima heraus: er litt an Lungentuberkulose.
Einzig die Mathematik, seine fast spielerisch gewonnenen und dabei sehr tiefliegenden Einsichten,
gewährten ihm Ausgleich für alle Kümmernisse. Abel befand sich mit dem aus einer Potsdamer Bankiersfamilie
stammenden
C. G. J. Jacobi, der unter besten sozialen Bedingungen sich die Mathematik hatte
aneignen können, in einem mathematischen Wettlauf, der in der Geschichte der Mathematik seinesgleichen
sucht. Von Sorgen um seine Zukunft niedergedrückt, grenzt es fast ans Wunderbare, wie er seinem
schwächer werdenden Körper noch diese grossartigen Ergebnisse hatte abringen können.
Ebenfalls im Anschluss an Legendre hatte Jacobi im September 1827 ein erstes allgemeines Theorem
publiziert, wonach das elliptische Integral allgemeine rationale Transformationen gestattet. Gegen Ende
des Jahres fand auch Jacobi den Inversionsgedanken und machte von der doppelten Periodizität der
elliptischen Funktionen Gebrauch. Abel seinerseits verallgemeinerte im Mai 1828 die Jacobische
Transformationstheorie wesentlich. Jacobi, ein gerechter Beurteiler der Abelschen Leistung, war der
Bewunderung voll und lobte dessen Leistung in einem überschwenglichen Brief an Legendre. Jacobi
wiederum antwortete mit der Veröffentlichung der von ihm neu gefundenen Ergebnisse, ohne Beweis
allerdings, in Crelles Journal und liess 1829 ein selbständiges und für die ganze Theorie der transzendenten
Funktionen grundlegendes Werk "Fundamenta nova theoriae functionum ellipticarum" (Neue
Grundlagen einer Theorie der elliptischen Funktion) erscheinen.
Zur Antwort ist Abel nicht mehr gekommen. Ende 1828, Anfang 1829 verschlechterte sich Abels
Gesundheitszustand sehr rasch. Auch die Pflege bei Freunden in Froland, nahe Arendal, vermochte ihn
nicht zu retten. Er starb am 6. April 1829.
Das Lebensende von Abel besitzt tragische Züge. Während Abel in den Jahren 1828 und 1829 zunehmend
körperlich verfiel, setzte sich seine Anerkennung als hochbegabter Mathematiker in Europa durch.
Vielerorts suchte man ihm eine angemessene Berufung an eine Universität zu verschaffen. Schumacher
setzte sich ein, Jacobi und Legendre korrespondierten darüber, Gauss drückte seine hohe Anerkennung für
Abel aus, und gegen Ende 1828 stand sein energischer Fürsprecher, Crelle, mit der Berliner Universität
in ernsten Berufungsverhandlungen für Abel. Zwei Tage nach Abels Tode, von dem Crelle der damals
noch schlechten Postverbindung wegen nichts wissen konnte, erhielt Crelle die Zusage, dass eine Berufung
für Abel nach Berlin ergehen werde.
Nachtrag: 2002 hat die norwegische Regierung anlässlich des 200.-sten Geburtstags von Abel eine Stiftung gegründet. Als
Folge davon wird jedes Jahr der Abel-Preis mit einem Preisgeld von 755'000 Euro verliehen. Adresse s. unter Links.